Gewaltvideos, Hass, Einsamkeit – Kinder wachsen im digitalen Abgrund auf. Die niedersächsische Pädagogin Silke Müller warnt im Interview: Wenn wir sie nicht begleiten, übernimmt das Netz ihre Erziehung.
Digitale Plattformen prägen das Leben junger Menschen wie nie zuvor – und öffnen zugleich Abgründe. Gewaltvideos, Hass und Falschinformationen bestimmen die Feeds, während Eltern kaum noch verstehen, was ihre Kinder online erleben. In dieser neuen Wirklichkeit fordert Silke Müller, ehemalige Schulleiterin und Digitalbotschafterin des Landes Niedersachsen, ein radikales Umdenken.
Doch Müller geht es nicht um Technik, sondern um Haltung. Sie spricht über Kinder, die sich von Chatbots trösten lassen, über Eltern, die aus Hilflosigkeit Verbote aussprechen – und über die Frage, warum wir den Begriff „Zensur“ vielleicht neu denken müssen.
t-online: Frau Müller, mein zwölfjähriger Sohn zeigte mir auf TikTok eine Anleitung, wie man in Google Maps Massaker im Sudan sehen kann. Er hatte das auch selbst ausprobiert – ich war fassungslos. Ist das die Realität, in der Kinder heute leben?
Silke Müller: Leider ja. Was Sie beschreiben, erleben viele Kinder – nur dass sie es ihren Eltern meist verschweigen, aus Angst davor, dass ihnen das Handy abgenommen wird. Viele Eltern reagieren mit Verboten, weil sie sich hilflos fühlen. Damit verschärfen sie das Problem: Kinder verlieren Vertrauen und ziehen sich zurück. Währenddessen sind sie mit dem Schlimmsten konfrontiert – Gewaltvideos, Livestreams, echte Tötungen. Und das meist ohne jemanden, der ihnen hilft, das zu verarbeiten. Die Algorithmen spülen solche Sensationen gezielt nach oben, weil sie Reichweite bringen.
Sie sprechen in Ihren Vorträgen vom „Dauerfeuer der Abgründe“. Was meinen Sie damit?
Qualitativ wie quantitativ hat sich die Lage verschärft. Seit etwa 2018, als TikTok richtig durchgestartet ist, hat sich der Umgang mit Inhalten massiv verändert. Heute geht es nicht mehr nur um Unterhaltung, sondern um ein unkontrolliertes Gemisch aus Spaß, Schock und Sensation, das sehr schnell nach oben gespült wird.
Was sehen Kinder dort konkret?
Gewalt, Tierquälerei, Folterszenen, sexualisierte Inhalte, Rassismus, radikale Propaganda oder gefährliche Challenges. Alles, was Aufmerksamkeit erzeugt, wird vom Algorithmus belohnt.
Leben Kinder also in einer anderen Welt als wir?
Absolut. Für sie ist das Digitale Lebensrealität. Freundschaften, Identität, Trends – alles passiert dort. Das Smartphone ist kein Spielzeug, sondern ein fester Teil ihres Alltags. Viele Erwachsene verstehen diese Kultur nicht und unterschätzen ihre Wirkung.

Silke Müller, 1977 in Niedersachsen geboren, war 16 Jahre lang Schulleiterin der Waldschule Hatten im Landkreis Oldenburg, die unter ihrer Leitung als eine der ersten „Smart Schools“ Deutschlands ausgezeichnet wurde. Die Pädagogin und Bestsellerautorin („Wir verlieren unsere Kinder“) wurde 2021 zur ersten Digitalbotschafterin des Landes Niedersachsen ernannt und gilt heute als eine der wichtigsten Stimmen für digitale Ethik und Kinderschutz im Netz.
Manche sagen, auch frühere Generationen hätten Schlimmes gesehen – in Filmen oder Nachrichten. Ist das heute wirklich anders?
