Der mutmaßliche Täter von Magdeburg, Taleb A., hat sich offenbar massiv radikalisiert. Experte Ahmad Mansour ordnet die möglichen Motive ein. Und glaubt, dass der Anschlag vieles ändern könnte.
In den sozialen Netzwerken präsentierte er sich als vehementer Kritiker des Islam und Saudi-Arabiens: Doch zuletzt äußerte er sich auch kritisch zu deutschen Behörden und warf ihnen „geheime Operationen“ vor. Taleb A., der mutmaßliche Todesfahrer, der auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt zahlreiche Menschen mit einem Auto überfuhr, tötete und schwer verletzte, machte zuletzt eine Wandlung durch.
t-online hat mit dem Islamkritiker Ahmad Mansour gesprochen, der Psychologe beschäftigt sich seit Jahren mit islamistischem Extremismus – und erklärt mögliche Motive des mutmaßlichen Täters.
t-online: Herr Mansour, der mutmaßliche Täter von Magdeburg hat sich in seinen Islamhass womöglich so sehr gesteigert, dass es zu der Tat kam. Wie schätzen Sie ihn ein?
Ahmad Mansour: Die genauen Hintergründe müssen die Ermittlungsbehörden klären. Aktuell können wir nur mutmaßen. Immerhin hat Taleb A. extrem viel irres Zeug ins Internet geschrieben, nahezu stündlich Tweets abgesetzt. Ich sehe mehrere mögliche Motive oder Dinge, die ihn zur Tat getrieben haben könnten. Der Islamhass, den Sie ansprachen, ist sicher ein zentrales Thema, die Angst vor der zunehmenden Islamisierung Deutschlands. Doch eine Sache ist viel entscheidender.
Ein unfassbarer Hass auf Deutschland hat Taleb A. angetrieben. Besonders in Bezug auf Hilfe für Asylbewerber aus Saudi-Arabien, wo er sich ja auch engagiert hat.
Führen Sie das bitte aus.
Taleb A. wirft der Justiz vor, sich nicht um Geflüchtete gekümmert, sie gar missbraucht zu haben. Teils aberwitzige Verschwörungserzählungen, die er da offen von sich gab. Womöglich hatte er in seiner eigenen Asylgeschichte unrealistische Erwartungen, die vom deutschen Staat enttäuscht wurden. Er scheint massiv gekränkt zu sein. Zu guter Letzt dürfte der mutmaßliche Täter auch einfach emotional und psychisch verwirrt sein. Die Sache ist äußerst komplex.
Ahmad Mansour, geboren 1976, ist Psychologe. Seit 2004 lebt der arabisch-palästinensische Israeli und Deutsche in Berlin. Er arbeitet für Projekte gegen Extremismus und Antisemitismus. Anfang 2018 gründete er die Mansour-Initiative für Demokratieförderung und Extremismusprävention, die Projekte gegen muslimischen Extremismus und Antisemitismus für junge Menschen anbietet. Für seine Arbeit erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem den Moses-Mendelssohn-Preis zur Förderung der Toleranz, den Carl-von-Ossietzky-Preis und das Bundesverdienstkreuz.
Wem wollte er denn mit der Tat schaden?
Er wollte den deutschen Staat treffen, unschuldige Bürger. Dass er sich wie Anis Amri einen Weihnachtsmarkt auserwählt hat, passt eigentlich nicht in das mögliche Motiv des Islamhasses. Das zeigt aber, wie ambivalent er reagiert.
Jemand, der von sich behauptet, der größte Islamkritiker der Geschichte zu sein, und vorgibt, Menschen vor dem Islamismus zu retten, während er sie als Asylsuchende nach Deutschland bringt, verübt einen Terroranschlag nach dem Vorbild von Anis Amri, dem bekanntesten Islamisten in Deutschland. Da sieht man eine gewisse Verwirrung. Um einen klassischen rechtsradikalen Täter wie in Hanau oder Halle handelt es sich definitiv nicht.
Taleb A. wollte die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erregen. Bereits im August vergangenes Jahr hat er durchblicken lassen, zufällig ausgewählte Deutsche töten zu wollen. Mit der Tat in Magdeburg sagt er: „Ich darf Menschen töten, weil ich die Wahrheit habe!“ Der Mann hatte die Distanz zu sich, die Realität verloren. Eine schwere Persönlichkeitsstörung ist zu vermuten.
Die Anzeichen der Radikalisierung waren in jedem Fall da. Hätten sie nicht erkannt werden müssen?
Das ist eine Frage, die sich Sicherheitsorgane weltweit stellen müssen: Wie man darauf reagiert, dass sich Menschen in sozialen Medien radikalisieren. Auch bei Taleb A. hat es offenbar Hinweise an Behörden gegeben, womöglich sind die nicht angekommen oder weiterverfolgt worden. Das wird jetzt geklärt werden müssen.
Auch sein Umfeld wird jetzt untersucht.
Richtig, immerhin war der Mann Psychiater, hatte mit Patienten zu tun, die seine Hilfe benötigten. Das ist Wahnsinn. Wichtig ist ebenfalls: Was wussten Kollegen? Was haben sie mitbekommen? Taleb A. war auf der Arbeit sicher kein komplett anderer Mensch. Doch generell braucht es eine Antwort, wie man mit Hass und mit Radikalisierung umgehen will, der auf sozialen Medien wächst und in Gewalt im echten Leben mündet. Dieses Attentat ändert vieles.