Der Terrorismusexperte Peter Neumann warnt nach dem Angriff in Solingen vor weiteren Terrorattacken in Deutschland. Man könne aber etwas dagegen tun.

Nach dem Anschlag von Solingen wurde ein Tatverdächtiger festgenommen. Der Mann habe sich gestellt, teilte ein Sprecher des Innenministeriums von Nordrhein-Westfalen am späten Samstagabend mit. Zuvor hatte sich die Terrororganisation „Islamischer Staat“ zu der Tat bekannt, bei der drei Menschen starben und acht weitere verletzt wurden. Mehr zu dem mutmaßlichen Täter lesen Sie hier.

Der Terrorismusexperten Peter Neumann hatte schon länger vermutet, dass Deutschland künftig stärker in den Fokus von Islamisten geraten könnte. Im Gespräch mit t-online erläutert Neumann, warum die Tat von Solingen zur Strategie des IS passt, welche Rolle mittlerweile soziale Medien bei der Radikalisierung spielen und welche Maßnahmen die Politik jetzt ergreifen sollte.

t-online: Herr Neumann, der „Islamische Staat“ hat sich zu dem Anschlag in Solingen bekannt. Die Polizei prüft aktuell, ob das Bekennerschreiben echt ist. Passt dieser Anschlag aus Ihrer Sicht zum IS?

Peter Neumann: Das Bekennerschreiben lässt sich zu einhundert Prozent dem IS zuordnen. Denn es kam über die richtigen Kanäle. Wir wissen aber noch nicht, ob sich auch der Täter zum IS bekannt hat oder der IS nur die Tat für sich reklamiert. In der Regel folgen nach einem Bekennerschreiben weitere Botschaften, etwa ein Video des Täters, sein Name oder Details zu dem Anschlag.

Und ein solcher Messerangriff passt auch zur Strategie des IS?

Seit Anfang des Jahres wird genau zu solchen Taten aufgerufen: Es geht um Anschläge, die mit einfachsten Mitteln erfolgen sollen, etwa mit Messern oder Autos. Genau so etwas haben wir auch in Solingen erlebt.

(Quelle: M. Popow /imago-images-bilder)

Peter R. Neumann ist Professor für Sicherheitsstudien am King’s College in London. Zu seinen Fachgebieten zählen etwa Radikalisierung, Terrorismus, Aufstandsbekämpfung und Nachrichtendienste. Zudem hat Neumann bereits mehrere Bücher über diese Themengebiete verfasst. Neumann ist Mitglied der CDU.

Viele Einzelheiten zu der Tat sind noch nicht bekannt. Sie haben aber zuletzt schon gewarnt, dass sich die Bedrohungslage durch den Dschihadismus in Westeuropa verstärkt hat. Können Sie das Ausmaß beschreiben?

Wenn man sich die vergangenen zehn bis elf Monate anschaut, wurden sechs dschihadistische Anschläge erfolgreich in Westeuropa durchgeführt. Zudem gab es 21 weitere Versuche. Vergleicht man das mit den Zahlen von Europol von 2022, hat sich die Zahl der Anschläge seitdem vervierfacht. Die Zunahme ist deutlich und dramatisch. Deshalb sage ich: Der Terror kommt zurück. Man hatte geglaubt, der IS sei besiegt. Aber er hat sich wieder berappelt. Jetzt sehen wir: Die Einschläge kommen häufiger und näher. Der Dschihadismus ist wieder die größte Terrorgefahr Westeuropas.

Klingt so, als war ein solcher Anschlag aus Ihrer Sicht nur eine Frage der Zeit gewesen.

Es hat sich etwas zusammengebraut, besonders seit den Anschlägen der Hamas auf Israel vom 7. Oktober 2023. Das war ein riesiger Motivationsschub für Dschihadisten. Viele waren davor orientierungslos und deprimiert. Sie haben sich gefragt, wie es überhaupt weitergehen soll. Mit dem Krieg im Nahen Osten haben sie wieder ein Thema gefunden. Es war auch kein Zufall, dass in dem Bekennerschreiben auf Palästina Bezug genommen wurde.

Die Tat wurde dort als „Rache für Muslime in Palästina und überall“ bezeichnet.

Dabei war der IS an dieser Terroroffensive in Israel gar nicht beteiligt. Aber sie versuchen jetzt, sich mit ihrer eigenen Propaganda an dieses Thema dranzuhängen. Die Erzählung des IS lautet: Was in Palästina passiert, ist schrecklich. Aber man will nicht für die Region kämpfen, sondern für die Muslime in aller Welt und gegen die Christen und die Alliierten der Juden. Der IS versucht also, diesen Krieg für sich zu instrumentalisieren.

Terroristen der Hamas: Peter Neumann glaubt, dass der Islamische Staat die Anschläge der Hamas in Israel für sich nutzen konnte. (Archivfoto) (Quelle: IBRAHEEM ABU MUSTAFA/reuters)

Ist dieser Krieg im Nahen Osten, der als Reaktion auf die Anschläge der Hamas weiter andauert, der Hauptgrund, warum die Terrorgefahr gestiegen ist?

Der 7. Oktober ist nicht der Hauptgrund, warum die Terrorgefahr gestiegen ist. Aber er war für die dschihadistische Szene trotzdem ein entscheidendes Datum. Dieser Tag hat viele Terroristen motiviert. Die Tat in Solingen wäre übrigens auch nicht der erste Anschlag in Westeuropa seit den Anschlägen der Hamas. Erst Anfang April wurde in Zürich ein orthodoxer Jude angegriffen. Der 15-jährige Täter hatte später ein Video veröffentlicht, in dem er Wort für Wort eine Botschaft des IS zitierte.

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