Die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland ist im September leicht gesunken – eine Entspannung ist aber nicht in Sicht. Im Gegenteil: Experte Holger Schäfer warnt vor einer „gefährlichen Gemengelage“.

Wegen einer schwachen Herbstbelebung am Arbeitsmarkt ist die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland im September im Vergleich zum Vormonat nur leicht gesunken – um 66.000 auf 2,806 Millionen Menschen. Das sind 179.000 mehr als zum gleichen Zeitpunkt des Vorjahres, teilte die Bundesagentur mit.

Deutschland nimmt wegen seiner anhaltend schwächelnden Konjunktur Kurs auf die Marke von drei Millionen Arbeitslosen. Die Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, Andrea Nahles, geht davon aus, dass diese Schallmauer im nächsten halben Jahr durchbrochen werden könne, wenn keine entscheidenden konjunkturellen Impulse kommen.

Doch was bedeuten diese Zahlen genau? Und wie passt der Fachkräftemangel dazu? t-online hat dazu mit dem Arbeitsmarktökonomen Holger Schäfer gesprochen.

t-online: Herr Schäfer, die Zahl der Arbeitslosen ist im September leicht gesunken, zumindest im Vergleich zum August. Sieht es auf dem Arbeitsmarkt also gar nicht so übel aus?

Holger Schäfer: Doch, und ob. Die Lage ist sogar schlechter, als sie zunächst vermuten lässt.

Die Arbeitslosigkeit geht immer im September zurück – man spricht von der Herbstbelebung. Doch saisonbereinigt ist die Arbeitslosigkeit gestiegen, um 17.000. Das ist nicht wenig. Bereits seit Anfang des Jahres zieht die Zahl der Arbeitslosen monatlich um 10.000 bis 20.000 an. Der Arbeitsmarkt ist zwar weit von den Höchstständen der 2000er-Jahre entfernt. Doch die ganzen Fortschritte, die seit 2015 gemacht wurden, sind jetzt verloren.

Andrea Nahles erwartet zwischenzeitlich einen Stand von drei Millionen Arbeitslosen, wahrscheinlich im kommenden Frühjahr. Halten Sie das für realistisch?

Es wäre möglich. Die Arbeitslosigkeit wird auch 2025 leicht steigen.

Holger Schäfer. (Quelle: Institut der deutschen Wirtschaft)

Holger Schäfer ist Senior Economist für Beschäftigung und Arbeitslosigkeit am arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft Köln. Er studierte Wirtschaftswissenschaften an der Universität Bremen und ist seit dem Jahr 2000 für das Institut tätig. Schäfer forscht und publiziert regelmäßig zu Themen rund um den Arbeitsmarkt.

Worunter leidet denn der Arbeitsmarkt aktuell?

In erster Linie unter einer konjunkturellen Schwäche. Derzeit gibt es gar nicht so viele Entlassungen.

Entlassungen direkt können wir nicht messen, aber entsprechende Indikatoren zeigen hier keine Auffälligkeiten an. Anders sieht es jedoch bei Neueinstellungen aus.

Die Zahl der neu gemeldeten offenen Stellen ist auf einem Tief. Die Unternehmen stellen angesichts der schlechten Zukunftsaussichten weniger Leute ein. Menschen, die arbeitssuchend sind, sei es, weil ein Vertrag auslief oder sich beruflich neu orientieren, finden derzeit nur schwer einen Job.

Welche Branchen betrifft das vor allem?

Den Bau, den Handel und die Industrie. In letzterer Branche werden besonders wenige Zeitarbeiter eingestellt. Zudem gibt es nur wenige Ausnahmebereiche, die weiterhin Personal suchen: die öffentliche Verwaltung, das Gesundheits- und Sozialwesen. Also eher staatsnahe Jobs. In stromintensiven Branchen, wo es zu einem tiefen Strukturwandel kommt, geht die Beschäftigung zurück.

Andrea Nahles: Die Chefin der Bundesagentur für Arbeit erwartet zeitweise drei Millionen Arbeitslose im kommenden Jahr. (Quelle: Sven Simon/imago-images-bilder)

Gleichzeitig fehlen vielen Branchen die Fachkräfte. Wie passt das mit der aktuellen Arbeitslosigkeit zusammen?

Auf den ersten Blick ist das tatsächlich ein Paradoxon. Auf den zweiten Blick lässt sich der vermeintliche Widerspruch aber schnell erklären. Kurz gesagt: Die offenen Stellen der Unternehmen passen nicht auf die Menschen, die einen Job suchen.

Das müssen Sie ausführen.

Der Bestand der offenen Jobs geht zwar leicht zurück, ist aber insgesamt auf einem hohen Niveau. Das zeigt, dass die Firmen zwar grundsätzlich weniger einstellen. Doch für die Stellen, die sie besetzen wollen und müssen, finden sie niemanden. Das liegt daran, dass die Arbeitslosen eine andere, womöglich geringere Qualifikation haben als für die Stellen nötig wären.

Im Grunde wäre aber die Arbeitslosigkeit noch viel größer, wenn es keinen Fachkräftemangel gäbe, oder?

Ohne Fachkräftemangel hätte eine schrumpfende Wirtschaft – wie Anfang der 2000er-Jahre – noch zu starken Verwerfungen geführt. Aktuell schlägt die schwache Konjunktur nicht so krass auf dem Arbeitsmarkt durch. Die demografische Entwicklung kompensiert teils die Krise. Die Fachkräftezuwanderung hilft ebenfalls.

Die Generation der sogenannten Babyboomer geht in Rente, gleichzeitig kommen nicht mehr so viele Arbeitskräfte nach. Positiv ist diese demografische Entwicklung nicht.

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