Russland eskaliert in der Ukraine und wähnt sich im Krieg mit dem Westen. Im Interview erklärt der estnische Geheimdienstchef, was der Kreml als Nächstes plant – und warnt Deutschland.

Ein unscheinbares Gebäude im Süden der estnischen Hauptstadt Tallinn, umhüllt von weißer Bauplane und Fassadengerüst. Nur der meterhohe Betonwall und die vielen Überwachungskameras lassen vermuten, dass sich hinter den Mauern ein besonders geschütztes Areal auftut. Hier, zwischen Wohnhäusern, Brachland und verlassenen Bushaltestellen, sitzt der Välisluureamet, der Auslandsnachrichtendienst Estlands.

Chef der Behörde ist seit November 2022 der Geheimdienstoffizier Kaupo Rosin, der zuvor unter anderem den estnischen Militärgeheimdienst leitete. Rosin hat sich an diesem Mittwoch Zeit für t-online genommen, fast zwei Stunden spricht der Geheimdienstchef über russische Einflussoperationen, Putins imperiale Ambitionen in Europa und die Angst vor einem Atomkrieg. Der Geheimdienstler hat auch eine Botschaft für Deutschland – und warnt vor „kinetischen Operationen“ der Russen.

t-online: Herr Rosin, hat der deutsche Bundeskanzler einen Atomkrieg verhindert?

Kaupo Rosin: Ich bin nicht sicher, worauf Sie anspielen.

Die „New York Times“ berichtete kürzlich von einem abgehörten Gespräch russischer Militärs, die im Oktober 2022 einen Nuklearwaffeneinsatz in der Ukraine besprochen haben sollen. Einen Monat später reiste Scholz nach Peking und brachte die Chinesen dazu, sich öffentlich gegen den Einsatz von Kernwaffen zu positionieren. In Deutschland wurde das so interpretiert, als habe der deutsche Kanzler wohl eine nukleare Katastrophe mitverhindert.

Ich war bei dem Gespräch nicht dabei. Ich verfüge aber über keine Daten, die diese Behauptung belegen würden. Unsere Geheimdienste haben seit Februar 2022 keine ungewöhnlichen Aktivitäten der russischen Nuklearstreitkräfte festgestellt.

Was wäre das zum Beispiel?

Etwa wenn die Nuklearstreitkräfte in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt werden, was nur einmal kurz nach Invasionsbeginn stattfand. Oder wenn atomare Sprengköpfe bewegt werden, etwa von Depots zu möglichen Trägersystemen. Wir kennen die Depots, die Standorte der Trägersysteme, die zuständigen Truppenteile. Es gab reguläre Übungen, aber nichts Beunruhigendes.

Für wie wahrscheinlich halten Sie den Einsatz einer taktischen Atombombe in der Ukraine?

Das ist ein extrem unwahrscheinliches Szenario.

Ein Diktator wie Putin hat ein übergeordnetes Interesse: sein Überleben. Das wäre im Fall eines Nukleareinsatzes existentiell bedroht. Meiner Erfahrung nach fürchtet die russische Führung nichts mehr als eine Dynamik, die sie nicht kontrollieren kann. Was nicht heißt, dass sie die Dinge immer korrekt berechnet. Der Überfall auf die Ukraine basierte auf zahlreichen Fehlkalkulationen. Aber ein Atomwaffeneinsatz wäre eine historische Zäsur mit unberechenbaren Folgen, auch für Putins politisches und physisches Überleben.

Die Angst vor einer nuklearen Eskalation im Ukraine-Krieg ist dennoch weit verbreitet, auch in Deutschland. Sie wird immer wieder angeführt, etwa um bestimmte Waffensysteme nicht oder erst spät zu liefern. Wie blickt der Kreml darauf?

Die Russen haben verstanden, dass eine nukleare Bedrohung für die Gesellschaften des Westens schwer auszuhalten ist. Die russischen Nachrichtendienste analysieren die westlichen Reaktionen auf Atomdrohungen, sammeln Feedback ein und melden es der Befehlsebene. Die wiederum nutzt die Erkenntnisse, um die Methoden der nuklearen Erpressung zu verfeinern. Die Russen sind nicht dumm, sie überlegen genau, wann und wie sie sie einsetzen.

Aus russischer Sicht ist sie eine der wenigen wirklich effektiven Waffen im Informationskrieg. Ohne die nukleare Erpressung wäre die westliche Militärunterstützung für die Ukraine deutlich höher, das ist zumindest die Einschätzung russischer Dienste. Wir können davon ausgehen, dass sie sie noch häufiger einsetzen werden.

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