Friedliche Revolution

Als das Volk über die Stasi triumphierte

Aktualisiert am 14.01.2025 – 08:05 UhrLesedauer: 4 Min.

Millionen von Akten der ehemaligen DDR-Staatssicherheit wurden gesichert. (Archivbild) (Quelle: Britta Pedersen/dpa-Zentralbild/dpa/dpa-bilder)

Vor 35 Jahren stürmten Tausende die Zentrale der DDR-Staatssicherheit in Berlin. Für viele ein historischer Moment und ein Akt der Genugtuung. Und zugleich Keim des Streits bis heute.

Das Flugblatt hatte Ralf Drescher in einer Kirche eingesteckt. „Wehrt euch! Geht auf die Straße!“, stand auf dem handgedruckten Zettel. Montag, 15. Januar 1990, 17.00 Uhr. „Da war für mich klar: Da gehst du hin“, erinnert sich der Fotograf. Und so stand er an jenem Wintertag in der Menge am Stahltor der Zentrale der Staatssicherheit in Berlin-Lichtenberg und erlebte einen entscheidenden Moment der friedlichen Revolution in der DDR.

Von hinten drängelten sie, vorn kletterten die ersten auf das Tor, kappten Kabel an Überwachungskameras, reckten Fäuste. „Stasi raus“, brüllten einige. „Macht das Tor auf“. Und tatsächlich: Die Stahlflügel bewegten sich. Massen strömten von der Ruschestraße auf das riesige Stasi-Gelände. Das Volk übernahm den verhassten Geheimdienst. Zumindest symbolisch, zumindest für ein paar Stunden im wilden Wendewinter vor 35 Jahren.

„Das hatte damals eine ungeheuer große und positive psychologische Wirkung“, sagt der Historiker Stefan Wolle, der bei der Besetzung dabei war. „Das kann man gar nicht hoch genug einschätzen.“ Die Aktion half, 111 Regalkilometer Stasi-Akten für die Aufarbeitung der SED-Diktatur zu sichern. Nach Angaben des Bundesarchivs war es weltweit die erste umfassende Öffnung von Akten einer Geheimpolizei. Für viele eine Genugtuung, für andere eine Zumutung. Bis heute reißt das Stasi-Erbe tiefe Gräben, auch zwischen Ost und West.

Nach dem Mauerfall vom 9. November 1989 taumelte der von der Einheitspartei SED beherrschte Staat schon seinem Ende entgegen. Am Runden Tisch redete die DDR-Opposition mit. Die Stasi, die jahrzehntelang mit Zehntausenden offiziellen und inoffiziellen Mitarbeitern Bürger bespitzelt und drangsaliert hatte, hieß nun Amt für Nationale Sicherheit. Die Auflösung war angekündigt. Doch als Ende 1989 eine Debatte über einen neuen „Verfassungsschutz“ der DDR und über die Vernichtung von Akten Fahrt aufnahm, schlugen Oppositionelle Alarm.

„Die Regierung nimmt den Runden Tisch und damit das Volk nicht ernst“, steht auf dem vergilbten Flugblatt der Bürgerbewegung Neues Forum, das Ralf Drescher bis heute aufbewahrt. „Die SED fühlt sich wieder mächtig, die Stasi wird „Verfassungsschutz“, in den Betrieben ist alles beim Alten.“ Die Bürgerrechtler wollten sich ihre Revolution nicht zurückdrehen lassen. „Damals war man der Meinung, man lebt doch prima ohne Geheimdienst“, meint Drescher, damals 30 Jahre alt und schon ein paar Jahre in Oppositionskreisen unterwegs. Die SED-Gegner riefen zum Widerstand. Tausende kamen.

Auf sie wartete ein „psychologisches Wechselbad“, so nennt es Historiker Wolle. „Es hat ja jahrelang eine ungeheure Angst gegeben vor der Stasi“, erinnert er sich. „Und da nun einfach so hinzurennen, die Tore aufzumachen und mit denen zu verhandeln und sich alles zeigen zu lassen, das war schon ein großer Akt.“

Joachim Gauck, damals im Neuen Forum, dann erster Chef der Stasi-Unterlagenbehörde und später Bundespräsident, sprach einmal von einem „Element der Genugtuung“ bei den Demonstranten in den Stasi-Gebäuden. Einiges ging zu Bruch, darunter ein Stasi-eigener Friseursalon im sogenannten Versorgungstrakt im Haus 18, auf Fluren lagen großflächig Papiere verstreut. Aber so richtig wussten die Besetzer nicht, was sie genau bewirken wollten, das berichten mehrere Zeitzeugen. Nach zwei, drei Stunden zogen sie wieder ab. Beauftragte eines Bürgerkomitees übernahmen die Wacht über die Akten.

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